Der Golfplatz

Damals war Cedrik nicht vorbereitet gewesen, auf das, was ihn im Büro des Entwicklungsleiters erwartete. Er hatte Frau Maurer-Küppers Versuche, ihn am Betreten zu hindern, ignoriert. Als er in ihr Sekretariat stürmte, schien sie tief versunken in ein wichtiges Telefonat. In einer Bitte-Nicht-Stören-Pose thronte sie hinter ihrem Schreibtisch, der eigentlich mehr ein Empfangstresen ist, wie er wegen seiner Größe und seinem Design für eine florierende Anwaltspraxis oder eine stark frequentierte Arztpraxis angemessen wäre. Cedrik nutzte, die wie ihm schien, günstige Situtation. Es wirkte als schaute sie durch ihn hindurch, in eine weite Ferne, als habe sie direkten Blickkontakt mit ihrem telefonischen Gegenüber. Cedrik versuchte unbemerkt an ihr vorbeizuhuschen, denn er ging davon aus, dass wenn er wartete, sich bemerkbar machte und sein Anliegen korrekt vorbrachte, sie ihn nicht zu Baumeister ließe, ihn stattdessen mit einem Termin in den nächsten Tagen abspeisen würde. Aber er wollte, er musste, jetzt mit Baumeister sprechen.

Wenn man ihr Büro betrat, spürte man sofort, dass die eigentliche Aufgabe dieses Raumes nicht darin bestand, ihr als Sekretärin des Entwicklungsleiters einen ordentlichen Arbeitsplatz zu schaffen sondern Besucher zu beeindrucken und in gewissem Sinne auch abzuschrecken und Baumeisters Stellung zu betonen. Ein Raum der suggerierte, dass Geld und Platz in der Firma in Hülle und Fülle vorhanden waren. Was natürlich in kompletten Widerspruch zur ansonsten vorherrschenden Raumnot der Firma stand. In einem solchen Raum mussten in der Entwicklung, überlegte sich Cedrik, mindestens drei Entwickler arbeiten. Man pferchte mehr von seinesgleichen zusammen, als es die europäische Geflügelverordnung zuließ, scherzten die Entwickler häufig. Aber mehr noch als den üppigen Platz neidete Cedrik ihr, ihren Computer. Sie brauchte ihn im wesentlichen nur für E-Mails zu bearbeiten und Termine zu verwalten, aber die technische Ausstattung des Gerätes war der Traum eines jeden Entwicklers. Cedrik, der Algorithmen entwickelte, die viel von der HW verlangten, musste sich statt dessen, weil die Firma es sich nicht leisten könne, mit einem veralteten Modell zufrieden geben.

Frau Maurer-Küpper hatte unbeirrt weitertelefoniert, als Cedrik ihr Büro durch die offenstehende Türe betreten hatte. Noch nicht einmal in ihrer Gestik oder durch Blicke hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie ihn wahrgenommen habe, dass sie noch kurz ihr Telefongespräch beenden müsse und dass sie sich gleich um ihn kümmern würde. Als gute Sekretärin, als die sie bekannt war, hätte sie normalerweise, sogar kurz ihr Telefonat unterbrochen und sich an ihn gewandt. Aber ihr Gesprächspartner schien so bedeutend zu sein, dass sie sich keine Ablenkung erlauben konnte. Erst als er weiter unbeirrt Richtung Tür ihres Chefs schritt, hauchte sie ein kurzes ,,Entschuldigung'' ins Telefon und fuhr ihn an, während sie sorgfältig die Sprechmuschel zuhielt, dass er dort jetzt nicht rein könne. Aber Cedrik rief ihr nur zu, dass er keinen Termin brauche. Das letzte, was er noch von ihr hörte, bevor er in Baumeisters Reich eindrang, war ein, dass dies nichts mit einem Termin zu tun habe.

Cedrik, auch wenn er, was die fachliche Kompetenz betrifft, zu den besten Entwicklern der Firma zählt, gehört nicht zu dem Personenkreis, mit dem Baumeister direkt verkehrt. Zwischen einem Entwickler und dem Entwicklungsleiter gibt es in ihrer Firma einen Puffer, der aus drei Hierarchistufen besteht. Es scheint als bestehe die Hauptaufgabe des Heers der Gruppenleiter, der zahlreichen Abteilungsleiter und der wenigen Bereichsleiter darin, den Entwicklungsleiter vor den unteren Chargen zu schützen. Ein Schutz, der so perfekt funktioniert, dass Baumeister weder mitbekommt, was seine Entwickler entwickeln noch wie sie es tun. Fern von der Realität geht er davon aus, dass sie seinen irrealen Vorgaben folgen. Ideen, die er mit seinen Bereichsleitern, die ja schließlich auch durch zwei Wolkenschichten von den Entwicklern getrennt auf der schmalen Sprosse ihrer Erfolgsleiter balancieren, zusammenbraut. Seine so gewonnenen und sogenannten Vorgehensweisen und Persepektiven könnten hervorragend ihrer Firma dienen -- so witzelt Cedrik häufig -- würden ihre Konkurrenten -- und nur die -- ihnen folgen. Würden seine Ideen in Reinkultur umgesetzt, müsste ihre Firma Pleite gehen. Aber nicht nur Cedrik sondern auch andere Entwickler und ganze Abteilungen bemühen sich die Vorgaben des Entwicklungsleiters zu umgehen, ohne dass es wie Meuterei wirkt. Zum einen werden besondere Zwänge, die aus dem Kundengeschäft kommen, vorgeschoben und zum anderen dienen technische und generelle algorithmische Probleme als Vorwand, wahnwitzige Vorgaben der Entwicklungsleitung zu umgehen. Cedrik ist sich sicher, dass ihre Firma trotz der Unfähigkeit vieler Führungskräfte nur deshalb überhaupt funktioniert, weil Leute wie er innovative Arbeit verrichteten, auch wenn man sie ständig daran hindert. Aber für seine Arbeiten, auch wenn er sie gegen Gumbrechts und Baumeisters Willen durchführt, ernten diese anschließend das Lob der Geschäftsleitung.

Frau Maurer-Küppers Empfangsanlage war der letzte, der innere Befestigungswall, den es zu überwinden galt, um zum Entwicklungsleiter zu gelangen. Wie die meisten Entwicklerinnen und Entwickler war Cedrik noch nie in Baumeisters Büro gewesen.

Cedrik war nicht auf das vorbereitet gewesen, was ihn dort erwartete. Diese Räumlichkeit als Büro zu bezeichnen war eine grenzenlose Untertreibung. Statt eines quietschenden billigen Linoleum-Bodens wie in seinen Niederungen üblich, versank Cedrik mit seinen Schuhen in einem flauschigen langhaarigen Teppich, einen den man zu Hause nicht mit Schuhen betreten würde. Der Raum lag im Halbdunkel. Durch die Schlitze der Jalousien drangen die Sonnenstrahlen und bildeten goldene Fächer, in denen feinste Staubpartikel einen einsamen Reigen tanzten. Er interpretierte nun ihre Warnung dahingehend, dass er Baumeister möglicherweise beim Mittagsschlaf stören könnte. Überrascht hätte es ihn nicht, wenn er ihn auch beim Golfspielen in der scheinbar unendlichen Ausdehnung seines Büros erwischt hätte. Aber Bauman spielte kein Golf, und er lag auch nicht auf dem schwarzen Designersofa der Besuchersitzgruppe. Baumeister sei auf Geschäftsreise, hörte er Frau Maurer-Küpper Stimme, die ihm trotz seiner Verletzung eines Sakrileges wieder sehr freundlich vorkam. Cedrik wollte ihr nicht glauben, schaute sich suchend in der Weite des Raumes um, so als habe sich Baumeister vielleicht in einem überdimensionierten imaginären Golfloch versteckt. Als könne sie Gedanken lesen sagte sie, dass er ihr glauben könne, Baumeister habe sich nicht versteckt.

© Bernd Klein