Wirklich keine Alternative

Frauke und Cedrik sitzen mit angewinkelten Beinen nebeneinander mit dem Rücken gegen die Außenwand der Landhausruine. Gumbrecht sitzt ihnen gegenüber in einer Ecke und scheint zu schlafen. Schon eine Weile hat niemand von ihnen gesprochen. Sie wirken erschöpft und müde. Frauke spielt mit kleinen Scherben von Dachziegel, die sie zu einer Kreislinie zusammengeschoben hat. Cedrik entnimmt eine der Scherben aus der Kreislinie, die viel größer als alle anderen ist und damit die Linienstruktur stört. Schweigend ersetzt er die Scherbe durch zwei andere, die in ihren Größenverhältnissen besser zu den übrigen passen.

Cedrik hatte immer noch das Gefühl, Frauke überzeugen zu müssen, dass es falsch wäre, die Polizei einzuschalten. Minuten vorher hatte er beschwörend zu Frauke geflüstert, dass sie Gumbrecht deswegen umstimmen müssten. Frauke hatte ihn mit weit geöffneten Augen angeschaut, aber ihm keine Antwort gegeben. Er hatte das Gefühl gehabt, als habe sie ihn überhaupt nicht verstanden. Dann hatte sie weiter ihre Scherben auf dem Boden verschoben.

Plötzlich überrascht sie Cedrik mit der Bemerkung, dass sie jetzt verstanden habe. Sie wisse jetzt, was die Ursache gewesen sei. Aber es geht nicht um das von ihm angesprochenen Problem. Sie weilt in der fernen Vergangenheit. Jahrelang habe sie auf das Abi hingearbeitet. Ständig habe sie davon geträumt, endlich fertig zu sein und das begehrte Papier in der Hand zu halten. Er müsse das Gefühl doch auch kennen. Cedrik nickt und wartet gespannt, worauf sie hinaus will.

-- ,,Die Feier ist wohl das Größte im Leben eines Gymnasiasten! Feierliche Musik, Reden und dann überreicht der Direktor einem das Zeugnis. Wenn die Eltern und Großeltern sich um die Bühne drängen, um den feierlichen Augenblick im Foto festzuhalten ...''

Sie stockte und Cedrik schob ein, immer noch beinahe flüsternd aus Rücksicht auf Gumbrecht, dass es bei ihm nicht ganz so festlich zugegangen sei. Eigentlich sei es schon feierlich gewesen, aber er könne so eine Stimmung nicht richtig aufnehmen. Es pralle an ihm gewissermaßen ab. Erst viel später werde ihm bewusst, das etwas Bedeutendes passiert sei. Eigentlich sei aber nicht die Feier sondern der Abschluss und dessen Endgültigkeit und die damit verbundenen gravierenden Änderungen im Leben das Entscheidende. Als Cedrik merkt, dass Frauke ihm zum einen nicht zuhört und andererseits gerne sprechen will, schweigt er.

-- ,,Ich habe es mir wahnsinnig gewünscht, seit ich einmal lange vor dem eigenen Abitur an einer Feier teilgenommen habe. Mit Vater und Mutter, beide zusammen auf der Bühne, überglücklich. Das habe ich mir mehr als das Abiturzeugnis selbst gewünscht. ...'', Frauke macht eine Pause und schluckt, als blockiere plötzlich ein Kloß ihren Hals. ,,Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet, wenn dein eigener Vater fehlt?''

-- ,,Deiner war nicht da?'', fragte Cedrik, weil ihm nichts Besseres einfiel.

Für sie sei es so gewesen als sei alles umsonst gewesen. So als sei das Abiturzeugnis mit einem Male wertlos geworden.

-- ,,Ich müsse verstehen sagte er, es ginge um einen der größten Aufträge seit er in der Firma sei und wenn er nicht dabei wäre ...Wie immer sagte ich kleinlaut `Versteh ich!', aber diesmal verstand ich ihn ganz und gar nicht. Wie immer sagte er ,,Schau' nicht so traurig! Ich kann's doch auch nicht ändern!' Genau das glaubte ich ihm diesmal nicht. Einmal im Leben mache ich Abitur, aber ein Auftrag ist wichtiger. So als könne ihn niemand vertreten. Bei der Feier konnte ihn jedenfalls wirklich niemand vertreten. Auch wenn meine Mutter da war, fühlte ich mich entsetzlich alleine. Während unser Direktor mir das Zeugnis überreichte, schaute ich plötzlich so traurig aus, dass er mir einen extra Klapps auf die Schulter gab und scherzend sagte `Gibt Schlimmeres als ein bestandes Abitur' ''

-- ,,Vielleicht konnte ihr Vater ja wirklich nicht anders ...'', versuchte Gumbrecht, der anscheinend doch nicht geschlafen hatte, ihren Vater zu verteidigen.

Schlimmer noch seien zwei Freundinnen ihrer Mutter gewesen, die sich während der Feier über die Abwesenheit ihres Vaters unterhielten. Sie hätten nicht bemerkt, dass sie hinter ihnen stand und dieser Minidialog hatte sich fest in ihr Hirn gebrant:

-- ,,Eigentlich hatte ich es nicht anders von ihm erwartet!'', sagt die eine.

-- ,,Aber heute hätte er doch wirklich kommen können ...'', sagt die andere.

-- ,,Er hat sie einfach nie richtig angenommen ...So etwas soll vorkommen bei Kuckuckskindern!''

-- ,,Bei der Abifeier habe ich erkannt,'', sagte Frauke in der Landhausruine, ,,dass ich die Liebe meines Vaters ... also ich denke immer noch von ihm als meinen Vater, auch wenn er es biologisch nicht ist ...All mein Ehrgeiz hatte nichts genutzt, ihn zu gewinnen. ... Vorhin ist mir klar geworden: Mit Holger habe ich jemanden wie meinen Vater geheiratet, aber diesmal sollte alles anders laufen. Weißt du warum ich ihn geheiratet habe?'', sie schaute ihn an und fuhr sofort fort, ,,Einmal sagte er `Frauke, ich liebe dich so wie du bist!' Also brauchte ich mich nicht zu verstellen, brauchte nicht auf besonders toll zu machen.''

© Bernd Klein