Aussteigen in der Toskana

-- ,,Setzen Sie sich doch zu uns!'', sagte Garda, klopfte dabei links von sich auf die Bank und rückte gleichzeitig auf Tuchfühlung mit dem rechts von ihr sitzenden Cedrik.

Für einen Augenblick glaubte Cedrik zu sehen, wie sich Fraukes Augen zu kleinen schmalen Schlitzen zusammenkniffen und wie sich ihre Mundwinkel nach oben zogen. Vielleicht waren es aber auch nur die rötlich goldenen Spiegelungen des Feuerscheins, die wie Wind im Laub über ihr verschattetes Gesicht huschten. Die Sonne stand tief hinter den Bäumen und bald würde es Nacht sein. Fast der ganze Lagerplatz lag nun im Schatten.

-- ,,Nein danke, ich will lieber noch ein wenig herumgehen.'', sagte Frauke, und Cedrik glaubte ihre Enttäuschung zu spüren.

-- ,,War Ihnen die Wanderung heute nicht genug?'', fragte Garda.

-- ,,Ich gehöre doch nicht zu denen, die ständig gejammert hatten'', sagte Frauke.

Burbacki schaute sich unwillkürlich fragend um, so als suche er diejenigen die sich so verhalten hätten. Aber auch wenn Frauke sich nie beklagt hatte, so war sie auch froh gewesen, als sie im Lager angekommen waren. Einerseits waren ihr die Anstrengungen des Tages bewusst geworden, aber gleichzeitig kam sofort Urlaubsstimmung auf, als sie von dem fröhlichen Treiben empfangen wurde. Selbst Burbacki hatte wieder lachen können, als er humpelnd am Lagerplatz eintraf, und dort die Zelte und die Verköstigungen sah. Alle hatten mit dem Schlimmsten gerechnet. Natürlich habe sie keine Angst vor Geistern, hatte Frauke auf der Wanderung zu Cedrik gesagt, aber dennoch verspüre sie keine Lust in einer modrigen etruskischen Grabkammer mit Isomatte und Schlafsack zu übernachten. Cedrik hatte dies als mögliches Katastrophen-Szenario ausgemalt. Statt von Geistern wurde sie fröhlich lachend von Garda mit einem Tablett voller gefüllter Sektgläser empfangen. Urlaubsstimmung hatte die Ängste verjagt und auch die beiden finster drein schauenden Gehilfen von Garda, die während des Tages den Lagerplatz hergerichtet und die Zelte aufgebaut hatten, konnten die positive Stimmung nicht trügen. Alleine im Wald, wollte er den beiden nicht begegnen, hatte Cedrik Frauke zugeflüstert. Er meinte die beiden Begleiter von Garda, die ihnen prall mit Kanapees gefüllte Tabletts entgegen hielten. Dabei lächelten sie, aber wie Leute, die nicht gewohnt sind zu lächeln. Im Prinzip meinte er vor allem das prallgefüllte Muskelpaket zu Gardas Rechten, ein Koloss, den Garda treffender Weise Monte nannte. Neben ihm wirkte Garda wie ein kleines Mädchen, dass ihm nur bis Brusthöhe reichte. Er trug ein ärmelloses weißes T-Shirt und seine Arme waren bis zu den Händen voller Tätowierungen. Das wäre doch das richtige Tattoo für unseren Dr. Wolff lästerte Cedrik leise. Cedrik meinte den grauen Wolf, der heulend und mit nach hintem geneigten Kopf Montes rechten Bizeps zierte. Cedrik war unwillkürlich zusammengezuckt, als Monte ihn nach seiner Bemerkung kritisch gemustert hatte. Frauke sagt, dass sie den anderen, den der zwergenhaft neben dem Koloss wirkte, viel unangenehmer fände. Ein hageres Gesicht mit dicht zusammenstehenden Augen, die nur durch eine hauchdünne Adlernase voneinander getrennt schienen. Ein Damm der so erschien, als könne er jeden Moment brechen und ihn damit zu einem Zyklopen machen. Stechende grüne Augen, die er ständig zusammenkniff. Seine dünnen schmalen Lippen sind von einem dunklen Schnurrbart halb verdeckt. Der Kleine habe einen verschlossenen und irgendwie brutalen Gesichtsausdruck, flüsterte Frauke und bemühte sich nicht in die Richtung des Kleinen zu schauen. Georgio, so nannte ihn Garda, wirke wie ein kaltblütiger und hündisch ergebener Mafioso. Der Riese zwei zwar immens und allem Anschein nach extrem stark, aber auf sie mache er einen völlig friedlichen Eindruck. Wozu vor allem seine braunen Rehaugen, die noch dazu etwas seitwärts standen, beitrugen.

Als das Feuer loderte, waren die beiden mit ihrem Geländewagen schon lange weggefahren. Sie kämen am nächsten Tag wieder um das ganze Zeug wieder einzupacken, sagte Garda.

-- ,,Sie können sich gerne zu uns ans Feuer setzen! Hier ist es besser!'', wiederholte Garda pflichtbewusst ihre Einladung an Frauke, die gerade husten musste, als der Rauch des zischenden und knisternden Feuers in ihre Richtung trieb.

Sie wollte sich nicht setzen, weil sie Cedrik von Garda weglotsen wollte. Sie war gekommen, um sich und ihr Vorhaben in Erinnerung zu bringen. Vorhin hatten sie beide gefunden, dass es noch schön wäre, später ein wenig um das Lager im Sternenlicht zu spazieren. Vielleicht sogar einmal zu der etruskischen Grabstätte zu gehen, die nicht weit von ihrem Lager entfernt war. Cedrik hatte sich gewundert, dass sie nun kurz vor Einbruch der Nacht dorthin gehen wollte, während sie nachmittags noch beteuerte, dass sie froh sei, nicht dort schlafen zu müssen. Cedrik zuckte kurz auf, er wollte aufstehen, er wollte mit ihr gehen, aber er war mitten in einer äußerst interessanten Unterhaltung mit Garda.

Cedrik hörte nur ein geflüstertes ,,...ich geh' dann mal ...'' und Frauke machte sich auf den Weg. Zuerst sah es so aus, als ginge sie zu den anderen, und Cedrik hoffte, dass sie dort auf ihn warten würde und nicht alleine wegginge.

-- ,,Ja, mein Vater war ein Aussteiger, aber nicht so wie sie es meinen!'', sagte Garda, so als hätte Frauke sie nie in ihrem Gespräch gestört.

Es war eine Unterhaltung, die sie am Vortag bereits begonnen hatten, in der Pause am Getränkeautomaten. Belanglos und dünn wie der Kaffee hatte sie begonnen. Routinierter Pausen-Smalltalk, den Garda schon bei anderen Kursen an der gleichen Stelle geführt hattte. Kaffee, das sei Dolce-Vita in Italien, sagte sie. So ein Automatenkaffee das sei eigentlich eine Beleidigung für die italienische Seele. Um diesen Kaffee nicht zu mögen, brauche man kein Italiener zu sein, sagte Cedrik. So eine Brühe, wäre selbst für deutsche Banausen ungenießbar. In Deutschland diene der Kaffee nur noch zur Steigerung der Arbeitsleistung. Nicht umsonst würde ihre Firma den Kaffee kostenlos zur Verfügung stellen. ,,Time is Money'' damit hätten die Amis widerstandslos Deutschland überrollt und nun sei Italien dran. Den Norden mit Mailand habe die Shareholder-Value-Armee schon fest im Griff und nun stehe sie kurz vor Rom.

-- ,,Dabei sind wir extra in die Toskana gezogen, um dem zu entgehen.'', sagte Garda lachend.

-- ,,Wir?'', fragte Cedrik lächelnd.

-- ,,Unsere Familie, das heißt, es war natürlich die Idee meines Vaters.''

-- ,,Das klingt so, als hätten Sie das nicht gemocht!''

-- ,,Zuerst schon. Welches Kind würde das nicht Klasse finden, wenn man ihm erzählt, dass man zum Meer in den Süden ziehe. Aber mir war nicht klar, dass ich meine Freunde nicht mehr wieder sehen würde, dass die Farm im Landesinneren also nicht am Meer war und was es hieß, sich nicht verständigen zu können! Aber das ist eine lange Geschichte ...''

Eine Geschichte, die sie vor dem Getränkeautomaten nicht mehr erzählen konnte, weil die Pause eigentlich schon um war, und vor allem weil Wolff erschienen war. Unverzüglich watete die Unterhaltung wieder in seichten Gewässern und sie begannen aufs Neue über Automatenkaffee-Kultur zu sinnieren.

Ihr Vater habe eine super Position gehabt, sagte Garda auf der Holzbank vor dem Feuer. Cedrik rutschte unruhig auf der Bank herum, als er sah, wie Frauke Richtung Wald losging. Er hätte ins Top-Management aufsteigen können. Eine Beförderung hätte in der Luft gelegen. Ein Job, von dem andere nur träumten, super Dienstwagen, Spitzengehalt, immer irgendwo in der Welt, immer nur in den besten Hotels und dann plötzlich, tat er etwas, was niemand erwartet hätte. Garda schwieg. Das Feuer knisterte und aus der Ferne hörten sie das Stimmenwirrwarr der anderen.

-- ,,Für mich war es die Krawatte ...'', sagte Garda und betrachtete ihn mit weit geöffneten Augen, in denen sich das Feuer wiederspiegelte. Sie fixierte ihn, als wolle sie sich vergewissern, ob er würdig sei, dass sie ihm ihre Gefühle aus der Kindheit anvertrauen konnte. ,,...eine leuchtendgelbe Krawatte mit blauen kleinen Pünktchen drin, das gleiche Blau wie sein Hemd ...Mama hatte es ihm neu gekauft! ...Ich erinnere mich noch gut. Er war richtig stolz gewesen mit der Krawatte und dem Hemd. Das seien tolle Farben. Und es sei mal was total anderes nicht immer ein weißes Hemd. Acuh seine Kollegen waren begeistert. ...Dann Tage später wollte er sie morgens nicht mehr anziehen. Nur das gute Zureden von Mama stimmte ihn um. Er schimpfte. Alle liefen nun mit solchen Hemden und solchen Krawatten rum. Mama sagte nur, dass das doch klar sei. Schließlich sei das im Moment ganz in. ...Später sagte Mama zu mir, dass es falsch gewesen sei. Sie hätte ihn eine andere Krawatte an diesem Morgen anziehen lassen sollen. Ich sagte nur, dass das Quatsch sei. Es wäre sicherlich alles genau so gekommen wie es gekommen war. Aber innerlich gab ich ihr recht. ...Mitten in einem Vortrag passierte es dann. Einige der wichtigsten Kunden waren dabei. Er zappelte undruhig auf seinem Stuhl rum und begann an seiner Krawatte zu ziehen und zu zerren, so als wehre er sich stranguliert zu werden, ...Ob ihm nicht gut sei, hatte ihn der Direktor gefragt, nachdem er es geschafft hatte die Krawatte in seiner Panikattacke auszuziehen. Er habe irgendetwas gestammelt und sei dann zur Toilette gerannt. Dann sei er zurückgekommen, blass und zitternd, durchnässten Haaren und Krawatte zusammengeknüllt in seinen Händen, wie eine Trophäe. Die oberen Knöpfe am Hemd auf, so dass das Unterhemd zu sehen war ...der Chef hatte ihn nach Hause fahren lassen, ... dann ging er wieder auf eine lange Reise, jedenfalls sagte dies Mama ...heute glaube ich, dass er in einer Nervenklinik war ...als er zurückkam, war er nicht mehr wie früher, auch wenn er das blaue Hemd mit der gelben Krawatte trug, er wollte ständig Oliven essen, schon morgens zum Frühstück ...wissen Sie, vorher hatte mein Vater Oliven gehasst ...nun verschlang er Oliven und redete nicht mehr von der Firma ...vorher hatte Mutter immer geschimpft ...`Du hast noch gar nicht nach deiner Tochter gefragt immer nur deine blöde Firma' ... plötzlich schwieg er, ...als Kind stellte ich mir vor, dass die Firma gar nicht mehr da wäre, dass sie plötzlich vom Erdboden verschwunden sei ...und Papa kam jeden Abend von seinem Olivenhain zurück ...davon redete er plötzlich unaufhörlich, die kleine Farm auf einem Hügel in der Toskana umgeben von Olivenbäumen ...und dann plötzlich eines Tages erklärte mir Mama, dass wir umziehen würden, in ein neues Haus in der Toskana.''

-- ,,Jetzt verstehe ich. Also nicht das Klischee eines Aussteigers.'', sagte Cedrik.

-- ,,Er war ein Aussteiger!'', sagte sie und betonte dabei das Wörtchen `war'.

-- ,,Wieso `war'?'', fragte Cedrik in einfühlsamem Ton, ,,ist er ...?''

Er erfreue sich bester Gesundheit, sagte Garda lachend in Cedriks pietätsvolles Schweigen. Austeigen aus einer Lebenssituation sei eine Momentsache. So wie das Aussteigen aus einem Bus oder einem Zug. Man steige aus und dann sei man ausgestiegen.

-- ,,Und dann kann man wieder in den nächsten Zug einsteigen!'', sagte Cedrik.

-- ,,Das wollte ich jetzt sagen! Mein Vater ist umgestiegen. In einen Zug, der in eine komplett andere Richtung fährt!''

-- ,,Also ist er ein Umsteiger!'', meldete sich Burbacki zu Wort.

Noch bevor Garda antworten konnte, wies ihn Cedrik zurecht. Analogie heiße das Zauberwort. Was Garda über Aussteiger gesagt habe treffe vollkommen analog auf Umsteiger zu. Sobald man umgestiegen sei, wäre man wieder ein ganz normaler Reisender.

-- ,,Danke!'', sagte Burbacki bissig, ,,Da wäre ich jetzt nie darauf gekommen!''

-- ,,So kam es mir vor!'', erwiederte Cedrik.

Burbacki ignorierte Cedriks Bemerkung und sagte stattdessen zu Garda, dass er so etwas bewundere.

-- ,,Was?'', fragte ihn Garda. ,,Wenn jemand alles hinschmeisst und wieder von vorne anfängt?''

So schön, wie sich es viele vorstellten, sei es nicht gewesen, versicherte ihnen Garda. Sie seien Fremde gewesen. Vor allem für sie als Kind sei es ein Schock gewesen. In der Schule habe sie am ersten Tag ihre Hose nass gemacht, weil sie nicht gewusst habe, wie man in Italienisch nach der Toilette fragen konnte.

-- ,,Ich meinte nur, dass ich es toll finde, wenn jemand den Mut hat, einen Traum zu verwirklichen!'', sagte Burbacki und nach einer Pause in der alle schwiegen fügte er hinzu: ,,Jeder hat doch schließlich einen Traum!''

-- ,,Und ihrer? Wie sieht der aus?'', fragte Garda.

Ein Krawattennadel mit integriertem Handy und MP3-Player, wollte Cedrik sagen.

-- ,,Schwer zu sagen!''

-- ,,Es gibt immer zwei Träume.'', sagte Garda ,,Den, den man zu haben glaubt und den Traum, den man nicht zu träumen wagt oder besser als aussichtslos sieht. Der eigentliche Traum sieht so aus bei Ihnen: Eine Erscheinung, die die Frauen schwach macht. Die Porsches, die Lottogewinne, die Südseeinseln, alles nur Mittel zum Zweck.''

-- ,,Woher wollen Sie wissen, was ich mir wünsche?'', protestiert Burbacki.

-- ,,Das meinte ich ganz allgemein! Tief im Innern träumen davon alle Männer, außer den wenigen natürlich, denen die Natur diese Gaben geschenkt hat.''

-- ,,Und Frauen? Wovon träumen die?'', fragte Cedrik.

-- ,,Analogie heißt das Zauberwort!'', sagte Garda lachend.

© Bernd Klein