Freiheitsstatue im Strudel

Plötzlich war es pechschwarz um sie herum. So als hätte jemand den türlosen Eingang und die zahlreichen anderen Öffnungen lautlos auf einen Schlag verschlossen. Der Mond musste hinter einer Wolke verschwunden sein. Die dicke weiße Lichtsäule, die von oben durch eine kleine Öffnung ihren Weg bis kurz vor ihre Beine gefunden hatte, war unvermittelt erloschen. Die Kammer, die vorher in der Reflexion des Mondlichtes leer und beinahe vertrauenserweckend ausgesehen hatte, schien jählings von den Schreckgestalten ihre Albtraumnächte bevölkert. Dennoch war es nicht nur schiere Fantasie, denn jemand schlich durch die Gänge. Sie war sich sicher, dass sie Schritte gehört hatte, auch wenn sie leise und gedämpft geklungen hatten. So wie jemand, der versuchte keine Geräusche zu machen, aber auch das feinste Knistern und Geraschel wurde verstärkt und verzerrt von der eigenartigen Akustik dieser Felsenhöhle, die Menschen vor mehr als 2500 Jahren in den Sandstein gehauen hatten. Ferritischer Sandstein, dessen Eisenoxide selbst im Halbdunkel noch rötlich schimmerten. Zuerst hatten die Etrusker hier sicherlich Eisenerz abgebaut, dann hatten sie das Höhlensystem als Grabkammern umfunktioniert.

Der Unbekannte - irgendwie fühlt sie, dass es ein Mann sein musste - gibt sich große Mühe, lautlos zu sein. Lautlos und bewegungslos lauert er nun nur wenige Meter vom Eingang ihrer Kammer entfernt. Sein Schleichen kann doch nur bedeuten, dass er weiß, dass sie da ist und dass er will, dass sie ihn nicht bemerken soll. Der Gedanke lässt sie frösteln. Oder vielleicht ist der Unbekannte ja nur selber ängstlich, versucht sie sich zu beruhigen. Vielleicht hat er sie gehört, also auch leise und schleichende Schritte und versucht sich nun zu vergewissern, dass er alleine ist. Vielleicht war er nur geschlichen, weil er ebenso wie sie fürchtete, die Geister der Vergangenheit wecken zu können, wenn er zu laut oder zu respektlos wäre?

Sie traut sich kaum mehr zu atmen. Um sie herum Stille. Der Unbekannte musste stehen geblieben sein. Vielleicht hat er sie doch noch nicht entdeckt, beginnt sie halbherzig zu hoffen. Dann würde er vielleicht gleich wieder Richtung Ausgang verschwinden. Obwohl sie sowieso nichts sehen kann schließt sie ihre Augen. Das monotone helle Geräusch aufplatzender Wassertropfen hallt dumpf durch die Gänge. Sie kämpft gegen die aufkommende Panik an. Zwar weiß sie die anderen nur wenige hundert Meter entfernt, aber sie würden sie nicht hören können. In dieser Grabkammer sitzt sie in der Falle. Möglicherweise ist es ja Cedrik, und sie fürchtet sich umsonst. Aber warum sollte Cedrik schleichen?

Was war los gewesen mit ihr, dass sie alleine losgegangen war, fragt sie sich. Eine verrückte Idee war es gewesen. Zu Hause käme sie nie auf die Idee, nachts durch den Stadtpark zu gehen, auch wenn die Abkürzung ihres Weges, vor allem wenn ihre Füße zum Beispiel von einem langem Einkaufbummel schmerzten, äußerst verlockend war. Aber ihre lebhafte Fantasie bremste sie immer, ließ sie immer den langen Weg entlang der gut beleuchteten aber hässlichen Straße nehmen. Ihre Vorstellungskraft bevölkerte das dunkle waldähnlich Areal mit gewaltbereiten Gestalten aller Art. Die Plätze hinter den Bäumen und Büschen des Parkes machten sich in ihrer Vorstellung Exhibitionisten, Vergewaltiger, zu allem bereite Drogenabhängige, Jugendbanden und skurpellose Räuber streitig.

Aber als sie das Lager verlassen hatte, war es noch hell gewesen, und sie hatte gar nicht daran gedacht, dass es schon so spät sei. Vielleicht lag es auch daran, dass es in der Toskana im Sommer früher dunkel und die Dämmerung viel kürzer als bei ihr zu Hause war. Außerdem hatte sie gar nicht vorgehabt, alleine in den Wald zu gehen, sie hatte mit Cedrik gehen wollen.

Es war so etwas wie Eifersucht gewesen, auch wenn sie es nicht so nennen wollte. Cedrik hatte bei Garda am Feuer gesessen, und es hatte ihm sichtlich gefallen. Ihre Vorstellung war absurd gewesen, dachte sie nun in der Grabkammer. Sie hatte sich geärgert, dass er nicht mit ihr hatte gehen wollen. Sie war extra zu ihm und Garda ans Feuer gegangen, hatte gesagt, dass sie noch ein wenig in den Wald gehen wolle. Sie war zu ihm gegangen, weil er vorher zu ihr gesagt hatte, dass er sie begleiten würde, dass er auch noch Lust hätte. Aber am Feuer neben Garda machte er keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen lauschte er gebannt dem, was Garda ihm erzählte. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie ihn nicht einfach direkt gefragt hatte, ob er mit ginge. Vielleicht hatte er sogar in Verkennung der Tatsachen geglaubt, dass sie alleine gehen wollte, da sie ihn nicht fragte. Ja, so konnte es gewesen sein, wäre er in ähnlicher Situation so zu ihr gekommen, hätte sie auch nicht ihre Begleitung angeboten. Sie hätte Angst gehabt aufdringlich zu wirken. Irgendwie glaubte sie nun rückwirkend sogar eine gewisse Unruhe und Unsicherheit bei ihm gespürt zu haben. So als quälte ihn ein Entscheidungsdilemma. Warum hatte sie sich nicht einfach zu den beiden gesetzt, wie es Garda auch angeboten hatte? Hätte statt Garda Gumbrecht neben ihm gesessen, hätte sie sicherlich ohne zu zögern neben ihnen Platz genommen, auch wenn sie dann Gumbrechts römisch-etruskischen Ergüssen hätte lauschen müssen. Ja, sie war eifersüchtig gewesen, und wenn sie dieses den Verstand lähmende und beziehungsschädigende Gefühl plagt, dann vergisst sie alles andere, sogar ihre Angst. Die Eifersucht ließ sie schmollend wie ein beleidigtes pubertierendes Mädchen in den Wald laufen. Dennoch hatte sie, kaum dass sie das Lager verlassen hatte, ein mulmiges Gefühl beschlichen. Trotz und vor allem der Stolz, sich nicht lächerlich zu machen, ließ sie jedoch weiter laufen. Selbst als die Nacht scheinbar schlagartig hereingebrochen war, stellte sich nicht ihre gewohnte Angst ein, denn das strahlende silbrig-milchige Licht des Vollmondes machte sie mutig.

Ebenso war auch das Kammernsystem der Grabkammern vom milchig weißen Mondlicht durchflutet, von vielen kleinen Öffnungen, die es früher nicht gegeben hatte. Diese etruskischen Grabkammern waren erst kürzlich freigelegt worden. Gefunden hatten sie Grabräuber, die sich bemüht hatten, die Eingänge wieder mit Erde zu versiegeln, damit man ihrem Treiben nicht allzu schnell auf die Schliche kommen würde. Aber dennoch entging dies nicht dem scharfen und geschulten Blick eines Archäologen, der schon viele andere Zeugen der etruskischen Vergangenheit wieder ans Licht gebracht hatte. Allerdings hatten die Grabräuber schon lange genug ungestört Zeit gehabt, sodass sich nichts mehr von Bedeutung in den Kammern befand. Eine bittere Erfahrung, die Archäologen leider allzu oft machen müssen. Dennoch freute sich die Fachwelt über diesen Fund. Möglicherweise gingen die Grabräuber ebenfalls leer aus, wenn ihnen habgierige Kollegen bereits Jahrhunderte zuvorgekommen waren.

Auf dem Weg zur Grabstätte hatte sie immer wieder das ihre Angst dämpfende Gefühl, -- auch wenn sie nicht sicher war, ob es nur eine Gaukelei ihrer Sehnsüchte war, -- dass Cedrik ihr folge. Ja, dieses Gefühl war schuld gewesen, dass sie weiter gelaufen war. Cedrik war nahe und sie brauchte keine Angst zu haben. Im Rhythmus ihrer Schritte zeigte sich der Widerstreit ihrer Gefühle. Mal lief sie schnell, zu schnell für das düstere Licht und den mit dicken Steinen und Ästen übersäten Pfad, dann wieder schienen sich ihre Beine nur widerwillig fortzubewegen, so als zöge sie eine Kraft nach unten oder gar rückwärts.

Sie ist sich sicher, dass sie nicht alleine in der Grabkammer ist. Ebenso sicher war sie sich, dass es nicht Cedrik war. Vielleicht war es einer der Grabräuber, der im Flur auf sie lauerte, fürchtete sie.

Irgendwann auf ihrem Weg zur Grabkammer, wich das Gefühl, dass Cedrik ihr folgte, einer unbestimmten Furcht vor einem unbekannten Verfolger. Statt Cedrik lauerten mit einem Mal Unbekannte im Wald. Immer wieder stellte sich in ihrer Vorstellung das Bild von Cazzo ein, noch Vampir-ähnlicher wie sie ihn im Tageslicht gesehen hatte. Manchmal hatte sie auch das Gefühl es könne Wolff sein der dort lauerte. Gegenüber Cazzo erschien er ihr als die angenehmere Alternative, obwohl sie sich darin nicht sicher war. Wenn sie sich umschaute, fühlte sie glitzernde Augen um sich, die sie aus dem grauen Wald anstarrten. Wie Raubtiere, die darauf lauerten, sie bei passender Gelegenheit anzuspringen. Zurück traute sie sich nicht mehr, denn dort lauerte die Gefahr. Immer schneller war sie gegangen, bis sie glaubte, den oder die Verfolger abgeschüttelt zu haben. Als wäre es ein gutes Versteck, hatte sie sich in die Grabkammer geflüchtet, statt ins Lager zurückzukehren.

Der Mond schimmert wieder in die Grabkammer und plötzlich hört sie Schritte, diesmal laut und klar und in der Kammeröffnung erscheint kein Unbekannter, sondern eine ihr vertraute Person. Aber ein ,,Gott-sei-Dank'' erfriert auf ihren Lippen. In seinen Augen glitzert die Begierde eines wilden paarungsbereiten Tieres. Schlimmer noch, es war der stierige Blick eines zu allem bereiten Sittlichkeitsverbrechers.

-- ,,So ein Zufall, die Frauke!'', sagt er mit zittriger Macho-Stimme. ,,Du wolltest gerne mit mir alleine sein, nicht wahr? ...Sonst hättest du doch nicht extra noch gesagt, wohin du gingst?''

Sie will ihm sagen, dass er sie in Ruhe lassen soll, dass er weggehen soll, aber sie starrt Hilfe suchend auf den Eingang hinter ihm und bringt nur ein Räuspern heraus. Sie fühlt sich in der Falle und sucht dennoch panikartig nach einem Weg heraus.

New York, dort war sie noch nie gewesen. Hinter ihm erscheint plötzlich die Freiheitsstatue, in ihrer Hand trägt sie eine leuchtende Fackel. Aus ihre Krone winken Touristen. Solange sie nicht dort oben gewesen wäre, könnte ihr niemand etwas anhaben, solange konnte ihr nichts passieren. Sie sieht ihn langsam mit ausgebreiteten Armen auf sich zukommen, aber die kupferne Lady überholte ihn, nimmt Fraukes Platz ein. Sie fühlt, wie sie erstarrt. Eisern, er würde sie nicht verletzen können. Wenn sie wollte, könnte sie die Pforten schließen und niemand könnte mehr zur Krone aufsteigen. Er hebt ihr Kleid hoch, seine schweißnassen Finger gleiten über ihren Bauch, grün und kupfern.

-- ,,Wusste ich doch, dass dir das gefällt! ...Immer so kalt tun und so geil sein!'', sagt er, während er ihren Schlüpfer nach unten reißt.

Die Niagara-Fälle, dort müsste sie unbedingt auch hin. Auf der Beobachtungsplattform, dort wo auch Marilyn Monroe gestanden hatte. Wie war das in dem Film? Die Hauptdarstellerin wollte ihren Mann herunterstürzen oder war es umgekehrt. Egal! Nein, verdammt, das war jetzt wichtig. Er sie oder sie ihn? Sie musste es wissen, aber wie sollte sie sich bei diesem Rauschen in ihren Ohren konzentrieren. Aber trotz dem Lärm des hinunterstürzende Wasser erinnert sie sich. Sie war es gewesen. Einen Moment war der Mann unvorsichtig gewesen, lehnte sich ein wenig zu weit zurück und sie gab ihm einen Stoß. Sie war ihm zuvorgekommen.

Hoch oben am Rande des Abgrund steht sie. Die Fackel hält sie aus der meterhohen Gischt, die man schon von weitem flussaufwärts sehen kann, als Warnung, dass dort die Fälle sind. Das Wasser reißt und zerrt an ihrem Sockel und sie spürt, dass sie sich nicht mehr halten kann. Tief unten im Nebel des Auffangbeckens direkt unter ihr ein Mann auf dem steingien rötlichen Grund. Sein Blick gierig und lüstern.

Das schäumende Wasser reißt sie in die Tiefe, aber ihrem eisernen Leib wird nichts geschehen, solange ihre Fackel nicht erlischt. Tiefe Stille dann ganz unten auf dem Grund des Eintauchbeckens. Die Augen des Mannes starren ins Leere. Erloschen. Ihre Augenlieder presst sie zusammen.

Nach einer Ewigkeit eine Stimme, eine andere Stimme. Eine sanfte, leise, irgendwie verzweifelte Stimme. Sie ist nicht alleine dort unten.

-- ,,Alles wird gut! Ich bin bei dir!''

-- ,,Wo?'', fragt Frauke, die dabei gähnend nach Luft schnappt, während Cedrik ihr hilft sich vom Boden zu erheben. ,,Der steinerne Sockel ist unten im Wasser geblieben?'', stammelt sie mit geschlossenen Augen.

Cedrik zeigt auf die reglose Gestalt ohne Hose, die vor ihnen liegt. An seinem Kopf klafft eine blutende Wunde. Daneben ein blutiger Stein.

Frauke wischt sich wieder über die Augen und starrt dabei ungläubig auf Wolff, so als gehöre er nicht dorthin, als habe er sich aus ihrem Aptraum in die Realität gestohlen.

-- ,,Was ist mit ihm ...'', fragte Frauke und als sie Cedriks ernste Mine sieht, spricht sie es aus, fragt, ob er tot sei.

Dann erkennt Frauke das Blut an dem Stein, den Cedrik in der Hand hält.

-- ,,Hast du ihn damit ...?'', fragt sie ängstlich.

Irritiert legt Cedrik den Stein auf den Boden und schüttelt halbherzig verneinend den Kopf.

-- ,,Der Mann in meinem ...Traum ...am Wasserfall ...weißt du ...er war direkt unter mir ...die Strömung war so stark ...sie riss mich einfach runter ...bin direkt wie ein Stein auf ihn gefallen, aber das kann doch nicht ...''

© Bernd Klein